Hintergrund

 

Einer alten, im Senegal mit dem Islam verhafteten Tradition folgend, vertrauen Eltern ihre Söhne, im Alter ab 4 Jahren, einem Marabout (Koranlehrer/ religiöser Führer) an. In dieser Zeit wohnen die Kinder in der Koranschule - die Verantwortung und die religiöse Erziehung der Kinder übernimmt dann der Marabout.

 

Infolge der sich immer weiter ausbreitenden Armut - insbesondere in ländlichen Gebieten durch Dürreperioden - nimmt die Anzahl der von ihren Eltern zu Marabouts geschickten Kindern, den sogenannten Talibés (Koranschüler) rasant zu.

 

Die Erziehung und der Koran-Unterricht erfolgen in Daaras, die nicht mit deutschen Schulen vergleichbar sind. Es handelt sich dabei eher um „Koran-Lehranstalten“, in denen die Kinder schlafen, essen und leben.

 

 

Katastrophale Lebensumstände für die Kinder

 

Die sich oftmals im Rohbau befindlichen Gebäude, die den Marabouts von den Eigentümern nur vorübergehend zur Verfügung gestellt werden, bestehen häufig aus notdürftig zusammengebundenen Strohmatten und haben oftmals noch nicht mal ein Dach.

 

Die Kinder, die auf den Betonböden oder im Sand schlafen müssen, sind– vor allem in der Regenzeit – Nässe und Kälte schutzlos ausgeliefert. Nur sehr wenige Daaras verfügen über Toiletten oder Waschmöglichkeiten.

 

Vor allem in den großen Daaras, in denen manchmal bis zu 100 Kinder leben, sind die hygienischen Bedingungen katastrophal und bilden ein großes Problem für die Bekämpfung vieler Krankheiten.

 


Talibés werden zum Betteln geschickt

 

Für den Koranunterricht und den Unterhalt der Kinder verlangt der Marabout ein Schulgeld, dass die Kinder durch Betteln auf der Straße selbst verdienen müssen. Täglich gibt es feste Zeiten, in denen die Kinder entweder um Geld oder aber auch um Essen bzw. Reis und Zucker betteln müssen.

 

Erreichen die Talibés nicht den geforderten Geldbetrag bzw. ihr „Tagespensum“, werden sie häufig mit körperlicher Gewalt bestraft. Auch für Verspätungen, schlechtes Lernen oder Unkonzentriertheit erhalten die Kinder Schläge. Vor allem der stundenlange Unterricht, in dem die Kinder vor einem erwachsenen Talibé oder dem Marabout knien, ist für sie eine Tortur, da sie immer wieder geschlagen werden.

 

Viele Kinder sind dem Druck nicht gewachsen: Wenn sie nicht genug Geld erbettelt haben, trauen sie sich oftmals aufgrund der drohenden Bestrafungen nicht in die Daaras zurück. Sie schlagen sich dann alleine durch und leben auf der Straße.


Der gefährliche Weg zurück

 

Einige von ihnen versuchen zu ihren Eltern zurückzukommen und nehmen dafür lange, gefährliche Wege auf sich. Da sich die Situation der Eltern aber nicht verändert hat, werden die Kinder oft in ihre ursprünglichen Daaras zurückgeschickt.

 

Auch die Gewalt der Kinder untereinander nimmt stetig zu. So wird den Jüngeren immer wieder das mühsam erbettelte Geld von den älteren Talibés weggenommen. Sexueller Missbrauch untereinander gehört mittlerweile zur Regel.

 

ALLES ANDERS.

 

Die senegalesische Regierung hat sich entschlossen, das seit Jahren bestehende Bettelverbot für Talibés und Straßenkinder nun durchzusetzen. Schon seit Anfang des Jahres müssen die Marabouts, die einen Daara betreuen, zu den Behörden (in diesem Fall AEMO), um sich registrieren zu lassen. Dort wird u.a. festgestellt wie viele Kinder sich in dem Daara aufhalten, woher sie kommen, wer der Marabout ist etc.. Anschließend wird ihnen eine Urkunde ausgehändigt.

 

Jeder, der den Koran gelernt hat, kann einen Daara eröffnen und dort als Marabout den Koran lehren. Das führte in der Vergangenheit dazu, dass unzählige Marabouts unzählige Daaras eröffneten. Die Kinder werden meist in dem Heimatdorf des Marabouts bei den Eltern angeworben und dann in eine der großen Städte des Senegals mitgenommen. Die Distanz der Städte zu den Heimatdörfern spielt hier eine wesentliche Rolle. Man möchte es den Kindern so schwer wie möglich machen, wieder zu ihren Eltern zu flüchten. Mit dieser, außer für das Kind, sehr zufriedenstellenden Lösung konnten alle Beteiligten sehr gut leben: Der Marabout, der mit den bettelnden Kinder einen Broterwerb hatte und die Eltern in den Dörfern, die somit weniger Kinder zu versorgen hatten – das alles zu Lasten des Kindes.

 

Warum jetzt?

 

Ein wesentlicher Grund für die strikte Durchsetzung des Bettelverbots liegt in der Terrorismusbekämpfung. Der Senegal wird als ein potenzielles Anschlagsziel gehandelt. Al Kaida ist schon lange an den Grenzen zu Mali und Mauretanien präsent. Boko Haram versucht im Land aktiv Leute zu werben. Es geht darum, das Land zu destabilisieren. In Kaolack wurde nun ein Imam wegen seiner Kontakte zu Boko Haram festgenommen. Seine Koranschule mit 300 Kindern wurde geschlossen. Gerade die Koranschulen gelten als Rekrutierungsstätten für die Terrororganisationen. So geschieht es schon seit langem in Nigeria, dem Ursprungsland von Boko Haram. Um nicht die Kontrolle über die Lehrinhalte der Koranschulen zu verlieren bemüht sich der Staat nun um deren Überprüfung. Das finanzielle Fundament der Koranschulen bilden die täglich erbettelten Summen der Talibés. Von diesen Summen werden deren Essen und der Lebensunterhalt des Marabouts und dessen Familie finanziert. Ein Bettelverbot hat zur Folge, dass ein Großteil der Koranschulen nicht mehr überlebensfähig ist. Alternativ werden, so wohl das Ziel, die Eltern wieder in die Verantwortung genommen. Das bedeutet: Entweder finanzieren sie die Kinder in den Koranschulen oder der Daara kann sich nicht halten und die Kinder kommen wieder zu ihren Eltern in ihr Heimatdorf.

 

Soweit die Theorie. Die große Frage ist: Wie lässt sich das Ganze in die Praxis umsetzen? Ich habe da überhaupt noch keine Vorstellung. Fakt ist: Bei meinem letzten Besuch in Mbour waren die Talibés komplett aus den Straßenbild verschwunden. Ich habe in den 3 Wochen nach Bekanntgabe der nun strikten Anwendung des Gesetzes vielleicht 5 Talibés auf den Straßen gesehen. Ein für mich völlig ungewohntes Bild. Die Polizei sammelt die Kinder von der Straße und übergibt sie dann unserem Verein. Wir kümmern uns so lange um die Kinder, bis der Marabout den Verlust der Kinder bemerkt und dann gezwungener Maßen bei der Polizei vorstellig wird. Die Polizei klärt ihn dann auf, dass bei nochmaligem Verstoß sein Daara geschlossen wird. Dann wird er zu uns geschickt, um die Kinder abzuholen. Die Angst, dass Kinder von der Polizei aufgegriffen werden, führt automatisch dazu, dass die Marabout ihre Kinder nun wie Gefangene in den Daaras halten.

 

 

Was bedeutet das für unseren Verein?

 

Keine Kinder auf den Straßen – keine Kinder mehr im Zentrum? Im Gegenteil.

 

Tatsache ist: Es gibt zu viel zu viele Kinder, die von ihren Eltern nicht versorgt werden können. Die komfortable Lösung für Eltern und Marabout, die Kinder einfach in eine Koranschule weg zu organisieren und sich der Verantwortung zu entziehen, fällt momentan weg. Die Folge, Eltern, Behörden, Polizei und auch Marabouts bitten uns, Kinder bei uns aufzunehmen. Wir haben jeden Tag Kinder, die uns vorbei gebracht werden. Teilweise übernehmen wir die Aufgaben des Staates (wie immer fehlen die finanziellen Mittel) und kümmern uns um die Rückführung in die Familien der Kinder. Das haben wir auch schon vorher getan. Neu ist, dass jetzt Kinder fest bei uns leben, um die sich keiner kümmern kann. Eben die Kinder, die vorher bequem wegorganisiert wurden. Zur Zeit sind wir mehr ein Kinderheim als ein Tageszentrum.

 

Wie lange die Regierung diese Strategie (die ja zunächst begrüßenswert ist, da sie die Verantwortung von den Kindern wieder auf die Eltern zurück delegiert) durchhält ohne eine wirkliche Alternativlösung anzubieten, werden wir sehen.